12. Kopfschmerz zurückzuführen auf psychiatrische StörungenHartmut Gobel2019-06-17T17:36:45+00:00
An anderer Stelle kodiert:
Kopfschmerz zurückzuführen auf psychische Störungen durch Substanzgebrauch (z.B. Abhängigkeit), Kopfschmerz bei Entzug einer Substanz, Kopfschmerzen bei akuter Intoxikation durch eine Substanz und Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch werden als Subtypen von 8. Kopfschmerz zurückzuführen auf eine Substanz oder deren Entzug kodiert.
Allgemeiner Kommentar
Primärer und/oder sekundärer Kopfschmerz?
Sowohl Kopfschmerzen als auch psychiatrische Erkrankungen sind häufig, so dass eine Komorbidität auch rein zufällig sein kann. Trotzdem kann eine kausale Beziehung zwischen einem neuen oder deutlich verschlechterten Kopfschmerz und einer psychiatrischen Erkrankung bestehen. Für Kapitel 12. Kopfschmerz zurückzuführen auf psychiatrische Störungen gelten mit einigen Anpassungen die allgemeinen Regeln für die kausale Zuordnung zu einer anderen Erkrankung.
- Tritt ein neuer Kopfschmerz erstmals in engem zeitlichen Zusammenhang zu einer psychiatrischen Störung auf und ein kausaler Zusammenhang wird bestätigt, dann wird der Kopfschmerz als sekundärer Kopfschmerz zurückzuführen auf diese psychiatrische Störung kodiert. Dies ist auch der Fall, wenn der Kopfschmerz das klinische Bild eines in Teil 1 der ICHD-3 kodierten primären Kopfschmerzes aufweist.
- Wenn sich aber ein vorbestehender primärer Kopfschmerz in engem zeitlichen Zusammenhang mit einer psychiatrischen Störung deutlich verschlechtert (üblicherweise definiert als eine mindestens zweifache Steigerung der Häufigkeit oder Schwere) und ein kausaler Zusammenhang bestätigt wird, dann sollten sowohl die ursprüngliche primäre Kopfschmerzdiagnose als auch 12. Kopfschmerz zurückzuführen auf psychiatrische Störungen (oder eines Subtyps) vergeben werden, sofern gute Hinweise bestehen, dass diese psychiatrische Störung Kopfschmerzen verursachen kann.
- Wenn in einem dieser Fälle ein kausaler Zusammenhang nicht bestätigt werden kann, dann sollten der vorbestehende primäre Kopfschmerz und die psychiatrische Störung getrennt kodiert werden.
Chronische Kopfschmerzen zurückzuführen auf eine psychiatrische Störung, die nach deren Ende persistieren, sind bislang nicht beschrieben.
Einleitung
Insgesamt existieren nur begrenzte Hinweise auf psychiatrische Ursachen von Kopfschmerzen. Die diagnostischen Kategorien in dieser Klassifikation sind daher den seltenen Fällen vorbehalten, in denen Kopfschmerzen im Kontext und als direkte Folge einer psychiatrischen Erkrankung auftreten, von der bekannt ist, dass sie sich mit Kopfschmerzen manifestieren kann.
Die diagnostischen Kriterien müssen restriktiv genug sein, um keine falsch positiven Fälle einzuschließen, aber gleichzeitig muss die Schwelle niedrig genug sein, um die Mehrzahl der betroffenen Patienten einzuschließen. In der überwiegenden Zahl der Fälle mit 12. Kopfschmerz zurückzuführen auf psychiatrische Störungen basiert die Diagnose auf der persönlichen Bewertung der Krankengeschichte und der körperlichen Untersuchung und nicht auf objektivierbaren diagnostischen Biomarkern.
Kopfschmerzen können auch in Assoziation mit psychiatrischen Störungen auftreten, ohne dass ein kausaler Zusammenhang besteht. Kopfschmerzen können zufällig gleichzeitig mit einer Vielzahl psychiatrischer Störungen bestehen, einschließlich Depressionen (depressive Episode, rezidivierende depressive Störung oder Dysthymie), Angststörungen (Trennungsangst, Panikstörung, soziale Phobie oder generalisierte Angststörung) und Trauma- oder Stress-assoziierte Störungen (reaktive Bindungsstörung, akute Belastungsreaktion, posttraumatische Belastungsstörung und Anpassungsstörung). In diesen Fällen sollte sowohl die Diagnose der primären Kopfschmerzerkrankung als auch die begleitende psychiatrische Diagnose gestellt werden.
Epidemiologische Daten zeigen allerdings, dass Kopfschmerzen und psychiatrische Störungen häufiger komorbid auftreten als rein zufällig zu erwarten wäre. Gemeinsame zugrundeliegende Faktoren können beide Erkrankungen verursachen oder zu ihnen prädisponieren; andererseits können konfundierende Faktoren auch zu einer Überschätzung der Komorbidität beitragen (zum Beispiel könnten Patienten mit einer der beiden Diagnosen häufiger auch noch die andere erhalten, einfach weil sie sich unter engmaschigerer medizinischer Beobachtung befinden). Echte kausale Beziehungen sind auch möglich, wobei der Kopfschmerz die psychiatrische Störung verursachen kann, die psychiatrische Störung den Kopfschmerz verursachen kann, oder es besteht eine wechselseitige (bidirektionale) Beeinflussung zwischen dem Kopfschmerz und der psychiatrischen Störung.
Die klinische Erfahrung nahe legt nahe, dass Kopfschmerzen, die ausschließlich während verbreiteter psychiatrischer Störungen wie Depressionen, Angststörungen oder Trauma- oder Stress-assoziierten Störungen auftreten, in einigen Fällen auf diese psychiatrischen Störungen zurückgeführt werden können. Wegen des unsicheren Kausalzusammenhangs und des Mangels an wissenschaftlichen Ergebnissen zu diesem Thema sind Kriterien für Kopfschmerzen zurückzuführen auf diese und alle anderen bis auf zwei psychiatrische Störungen im Anhang verblieben. Weitere Untersuchungen zu möglichen kausalen Zusammenhängen auf diesem Gebiet sind notwendig.
Es bestehen Hinweise, dass eine psychiatrische Störung den Verlauf einer 1. Migräne und eines 2. Kopfschmerz vom Spannungstyp verschlimmern kann, indem sie die Häufigkeit und die Intensität der Kopfschmerzen erhöht. Auch sprechen die Kopfschmerzen dann häufig schlechter auf die Behandlung an. Somit ist das Erkennen und Behandeln jeder begleitend auftretenden psychiatrischen Störung wichtig für eine erfolgreiche Behandlung von Kopfschmerzen. Bei Kindern und Jugendlichen treten primäre Kopfschmerzen (1. Migräne, 2.2 häufige episodische Kopfschmerzen vom Spannungstyp und vor allem 2.3 chronische Kopfschmerzen vom Spannungstyp) häufig komorbid mit psychiatrischen Störungen auf. Das Vorhandensein von Schlafstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), sozialen Phobien, Schulphobien, dem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom, Verhaltensstörungen, Lernstörungen, Enuresis, Enkopresis und Tics sollte sorgfältig beurteilt und die Störung behandelt werden. Zu berücksichtigen sind dabei die mit solchen Erkrankungen einhergehenden Beeinträchtigungen im Alltag und die negativen Auswirkungen auf die Prognose der kindlichen Kopfschmerzen.
Um zu klären, ob ein Kopfschmerz tatsächlich auf eine psychiatrische Störung zurückzuführen ist, muss zuerst die Frage geklärt werden, ob überhaupt eine psychiatrische Störung als Komorbidität vorliegt oder nicht. Es wird empfohlen, alle Kopfschmerzpatienten nach typischen psychiatrischen Symptomen zu fragen, wie sie bei Angststörungen und Depressionen vorkommen. Wenn der Verdacht auf eine psychiatrische Ursache der Kopfschmerzen besteht, dann sollte eine Evaluation durch einen Psychiater oder Psychologen erfolgen.