12.1 Kopfschmerz zurückzuführen auf eine SomatisierungsstörungHartmut Gobel2019-04-22T06:57:41+00:00
Beschreibung:
Der Kopfschmerz tritt als Symptom einer Somatisierungsstörung auf.
Diagnostische Kriterien:
- Kopfschmerz, der das Kriterium C erfüllt
- Es wurde eine Somatisierungsstörung1 diagnostiziert, die beide der folgenden Kriterien erfüllt:
- Es besteht eine Vorgeschichte mit multiplen körperlichen Symptomen mit Beginn vor dem 30. Lebensjahr. Die körperlichen Symptome sind trotz geeigneter Untersuchungen nicht oder nicht vollständig durch eine bekannte körperliche Erkrankung erklärt. Falls eine körperliche Erkrankung bestand, überschreiten die Symptome das aus der Anamnese, körperlichen Untersuchung und Laboruntersuchungen zu erwartende Ausmaß.
- Im Verlauf der Erkrankung treffen alle der folgenden Kriterien zu:
- Vier Schmerzsymptome: eine Vorgeschichte von Schmerzsymptomen, die mindestens vier verschiedene Körperbereiche oder Funktionen betreffen (z.B. Kopf, Brust, Rücken, Abdomen, Gelenke, Extremitäten und/oder Rektum; während der Menstruation, während des Geschlechtsverkehrs und/oder beim Wasserlassen)
- Zwei gastrointestinale Symptome: eine Vorgeschichte von mindestens zwei gastrointestinalen Symptomen außer Schmerzen (z.B. Übelkeit, Völlegefühl, Erbrechen außer während einer Schwangerschaft, Durchfall, Unverträglichkeit von verschiedenen Speisen)
- Ein sexuelles Symptom: eine Vorgeschichte von mindestens einem Symptom im Bereich Sexualität oder Fortpflanzung außer Schmerzen (z.B. sexuelle Gleichgültigkeit, Erektions- oder Ejakulationsstörungen, unregelmäßige Menstruationen, sehr starke Menstruationsblutungen, Erbrechen während der gesamten Schwangerschaft)
- Ein pseudoneurologisches Symptom: eine Vorgeschichte von mindestens einem Symptom oder Defizit (nicht begrenzt auf Schmerz), das einen neurologischen Krankheitsfaktor nahe legt (Konversionssymptome wie z.B. Koordinations- oder Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen oder lokalisierte Muskelschwäche, Schluckschwierigkeiten oder Kloßgefühl im Hals, Aphonie, Harnverhaltung, Halluzinationen, Verlust der Berührungs- oder Schmerzempfindung, Sehen von Doppelbildern, Blindheit, Taubheit, Anfälle; dissoziative Symptome wie z.B. Amnesie oder Bewusstseinsverluste, jedoch nicht einfache Ohnmacht)
- Ein kausaler Zusammenhang kann durch mindestens eines der folgenden Kriterien gezeigt werden:
- Der Kopfschmerz hat sich parallel zur Entwicklung anderer auf die Somatisierungsstörung zurückzuführender somatischer Symptome entwickelt oder deutlich verstärkt
- Der Kopfschmerz fluktuiert gleichzeitig mit anderen auf die Somatisierungsstörung zurückzuführenden somatischen Symptomen
- Der Kopfschmerz ist gleichzeitig mit anderen auf die Somatisierungsstörung zurückzuführenden somatischen Symptomen verschwunden
- Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose.
Anmerkung:
- Angemerkt sei, dass die Somatisierungsstörung in dieser Form nicht mehr in der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5), der letzten Revision des diagnostischen Manuals der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft von 2013 vorkommt, sie wurde durch die Kategorie Somatic Symptom Disorder (Somatische Belastungsstörung) ersetzt. Diese ist charakterisiert durch ein oder mehrere somatische Symptome, mit übersteigerten und anhaltenden Gedanken, die um die ernste Bedeutung dieser Symptome für die Gesundheit kreisen, einer anhaltend hohen Ängstlichkeit in Bezug auf die eigene Gesundheit und die beschriebenen Symptome, und/oder einem übersteigerten Maß an Zeit und Energie, das diesen Symptomen und Gesundheitssorgen gewidmet wird. Aufgrund der enormen Heterogenität dieser Kategorie (z.B. schließt sie sowohl Patienten mit Kopfschmerzen und übersteigerter Sorge bezüglich der Bedeutung ihrer Kopfschmerzen ein als auch klassische Fälle einer Somatisierungsstörung mit einem Muster hartnäckig fortbestehender multipler somatischer Symptome, darunter auch Kopfschmerz) wurde beschlossen, dass ein Zusammenhang nur dann behauptet werden kann, wenn der Kopfschmerz Teil eines umfassenderen Musters aus multiplen somatischen Beschwerden ist. Daher bezieht sich die vorliegende Klassifikation ICHD-3 weiterhin auf die Definition der Somatisierungsstörung aus dem DSM-IV.
Kommentar:
Somatisierungsstörungen sind charakterisiert durch eine Kombination vieler beeinträchtigender Symptome und eine überschießende oder maladaptive Antwort auf diese Symptome oder damit zusammenhängende Gesundheitsbedenken. Zu den möglichen Symptomen gehören gastrointestinale Probleme, Rückenschmerzen, Schmerzen in den Extremitäten oder Gelenken, Kopfschmerzen, Thoraxschmerzen und/oder Dyspnoe, Schwindel, Müdigkeit und Kraftlosigkeit sowie Schlafstörungen. Das Leiden des Patienten ist real, unabhängig davon, ob eine somatische Erklärung gefunden wird. Patienten mit Somatisierungsstörung leiden unter Distress und hoher funktioneller Beeinträchtigung. Die Symptome können, müssen aber nicht begleitend zu diagnostizierten somatischen oder anderen psychiatrischen Erkrankungen auftreten. Oft besteht eine hohe Inanspruchnahme medizinischer Versorgung, meist ohne deutliche Besserung der Beschwerden. Aus Sicht des Klinikers erscheinen viele dieser Patienten als therapierefraktär, und neue Therapieversuche und Interventionen führen oft nur zu einer Verschlechterung der Symptome oder zu unerwünschten Wirkungen und Komplikationen. Ein Teil der Patienten empfindet seine bisherige medizinische Diagnostik und Behandlung als unzureichend.