A1.4.6 Visual SnowHartmut Gobel2019-04-21T04:08:00+00:00
Diagnostische Kriterien:
- Dynamische, kontinuierliche winzige Punkte über das gesamte Gesichtsfeld1, >3 Monate anhaltend
- Zusätzliche visuelle Symptome in Form von mindestens 2 der folgenden 4 Typen:
- Palinopsie2
- verstärkte entoptische Phänomene3
- Lichtempfindlichkeit
- beeinträchtigtes Sehvermögen nachts (Nachtblindheit)
- Die Symptome decken sich nicht mit denen einer typischen visuellen Migräneaura4
- Die Symptome lassen sich nicht besser durch eine andere Erkrankung erklären5
Anmerkung:
- Die Patienten vergleichen Visual Snow mit einem verrauschten Fernsehbild („Bild schneit“). Die Punkte sind vor einem weißen Hintergrund üblicherweise schwarz oder grau, und vor einem schwarzen Hintergrund grau oder weiß; berichtet wurde jedoch auch von durchsichtigen, weiß aufblitzenden und farbigen Punkten.
- Die Palinopsie kann in visuellen Nachbildern und/oder einem „Nachziehen“ gerade gesehener beweglicher Objekte bestehen. Visuelle Nachbilder unterscheiden sich von Nachbildern auf der Netzhaut, die nur nach längerem Fixieren eines kontrastreichen Lichteindrucks auftreten und die Komplementärfarbe aufweisen.
- Zu diesen Phänomenen, die auf die Struktur des visuellen Systems als solchem zurückgehen, gehört auch ein übermäßiges Auftreten von Mouches volantes in beiden Augen, ein übermäßiges Auftreten des Scheerer-Phänomens (Blaufeld-Entoptik: unzählige graue/weiße/schwarze Pünktchen oder Ringe, die beim Blick auf eine homogene helle Fläche wie etwa einen blauen Himmel durch das Gesichtsfeld beider Augen schießen), vom Auge selbst hervorgerufene Lichtphänomene (farbige Wellen oder Wolken, die beim Schließen der Augen im Dunkeln gesehen werden) und spontane Photopsie (helle Lichtblitze).
- Wie unter 1.2.1 Migräne mit typischer Aura beschrieben.
- Unauffällige ophthalmologische Befunde (korrigierte Sehschärfe, Augenhintergrunduntersuchung bei weit getropfter Pupille, Gesichtsfelduntersuchung und Elektroretinogramm) und keine Einnahme von Psychopharmaka.
Kommentar:
A1.4.6 Visual Snow wird neu in den Anhang der ICHD-3 aufgenommen. Auch wenn es nicht per se Bestandteil des Migränespektrums sein mag, so scheint es doch epidemiologisch mit der 1.2 Migräne mit Aura assoziiert. Es besteht weiterer Forschungsbedarf, um zu ermitteln, ob diese Störungen gemeinsame pathophysiologische Mechanismen aufweisen, die visuelle Symptome auslösen, bis dahin wird jedoch vermutet, dass eine kortikale Übererregbarkeit bei beidem eine Rolle spielt. Patienten mit einer 1. Migräne weisen eine erhöhte Prävalenz von Palinopsie und Attacken mit erhöhter Empfindlichkeit gegenüber äußeren visuellen Reizen auf: Beim A1.4.6 Visual Snow finden sich sowohl Palinopsie als auch Photophobie. Patienten mit A1.4.6 Visual Snow und einer komorbiden 1. Migräne weisen häufiger Palinopsie, spontane Photopsie, Photophobie, Nyktalopie und Tinnitus auf als solche ohne komorbide Migräne.
Noch zwei weitere Gründe sprechen für eine Aufnahme von A1.4.6 Visual Snow in die ICHD-3, wobei die Kriterien weitgehend von Schankin et al. übernommen wurden. Erstens bewirkt es eine Sensibilisierung für dieses Krankheitsbild und hilft Medizinern, es zu erkennen. Patienten, die über Visual Snow als Symptom klagen, haben oft (in der Vorgeschichte) eine 1. Migräne; Ärzte ohne Kenntnis des A1.4.6 Visual Snow können seine Symptome fälschlicherweise als anhaltende visuelle Aura deuten. Zweitens werden, einem ähnlichen Argument in Bezug auf die Forschung folgend, für künftige Untersuchungen zu anhaltenden visuellen Symptomen homogene Probandengruppen benötigt; eine Einbeziehung der Kriterien für ein A1.4.6 Visual Snow stellt für Forscher klar, wie diese Erkrankung aktuell definiert wird.