A1.2 Migräne mit AuraHartmut Gobel2019-04-21T03:40:37+00:00
Früher verwendete Begriffe
Klassische Migräne; ophthalmische, hemiparästhetische, hemiplegische oder aphasische Migräne; migraine accompagnée; komplizierte Migräne.
Beschreibung:
Wiederkehrende, für Minuten anhaltende Attacken mit einseitigen, komplett reversiblen visuellen, sensorischen oder sonstigen Symptomen des Zentralnervensystems, die sich in der Regel allmählich entwickeln und denen in der Regel Kopfschmerzen und damit verbundene Migränesymptome folgen.
Diagnostische Kriterien:
- Mindestens zwei Attacken, die das Kriterium B und C erfüllen
- Ein oder mehrere der folgenden vollständig reversiblen Aurasymptome:
- visuell
- sensorisch
- Sprechen und/oder Sprache
- motorisch
- Hirnstamm
- retinal
- Mindestens drei der folgenden sechs Merkmale sind erfüllt:
- wenigstens ein Aurasymptom entwickelt sich allmählich über ≥5 Minuten hinweg
- zwei oder mehr Aurasymptome treten nacheinander auf
- jedes Aurasymptom hält 5 bis 60 Minuten1 an
- mindestens ein Aurasymptom ist einseitig2
- mindestens ein Aurasymptom ist positiv3
- die Aura wird von Kopfschmerz begleitet, oder dieser folgt ihr innerhalb von 60 Minuten
- Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose.
Anmerkung:
- Treten während einer Aura zum Beispiel drei Symptome auf, so beträgt die maximal akzeptable Dauer 3 x 60 Minuten. Motorische Symptome können bis zu 72 Stunden anhalten.
- Eine Aphasie gilt immer als einseitiges Symptom; bei einer Dysarthrie kann, aber muss es nicht so sein.
- Flimmerwahrnehmungen sowie nadelstichartige Parästhesien sind Positivsymptome einer Aura.
Kommentar:
Viele Patienten, die Migräneattacken mit Aura haben, erleben auch Attacken ohne Aura; diese sollten sowohl als 1.2 Migräne mit Aura als auch als 1.1 Migräne ohne Aura kodiert werden.
In Feldstudien wurden die diagnostischen Kriterien für eine 1.2 Migräne mit Aura im Hauptteil der ICHD-3 beta mit denen für eine A1.2 Migräne mit Aura im Anhang verglichen. Letztere schnitt besser ab, wenn es darum ging, eine Migräne mit Aura von einer transitorischen ischämischen Attacke zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird nun in der ICHD-3 übernommen, die keine im Anhang angeführten Kriterien für diese Erkrankung mehr ausweist.
Die Aura ist ein neurologischer Symptomkomplex, der in der Regel unmittelbar vor dem Kopfschmerz bei 1.2 Migräne mit Aura auftritt, kann jedoch auch nach Beginn der Kopfschmerzphase einsetzen oder sich bis in die Kopfschmerzphase hinein fortsetzen.
Die visuelle Aura ist der häufigste Auratyp, der bei mehr als 90% der Patienten mit einer 1.2 Migräne mit Aura zumindest bei einigen Attacken auftritt. Häufig stellt sie sich in Form eines Fortifikationsspektrums dar. Man versteht darunter eine Zickzack-Figur nahe dem Fixationspunkt, die
sich allmählich nach rechts oder links ausbreitet, eine lateralkonvexe Form mit gezackter flimmernder Randzone annimmt und in ihrem Zentrum ein graduell unterschiedliches absolutes oder relatives Skotom hinterlässt.In anderen Fällen tritt ein Skotom ohne positive visuelle Phänomene auf, dessen Beginn oft akut beschrieben wird, bei genauerer Analyse aber doch eine allmähliche Größenzunahme aufweist. Bei Kindern und Jugendlichen treten weniger typische bilaterale visuelle Symptome auf, die eine Aura darstellen. Es wurde eine Bewertungsskala für die visuelle Aura mit hoher Spezifität und Sensitivität entwickelt und validiert.
Nächsthäufiges Aurasymptom sind Sensibilitätsstörungen in Form von nadelstichartigen Parästhesien, die sich langsam vom Ursprungsort ausbreiten und größere oder kleinere Teile einer Körperhälfte einschließlich des Gesichtes und/oder der Zunge erfassen können. In der Folge dieser Sensibilitätsstörung kann ein sensibles Defizit zurückbleiben, es kann aber auch als alleiniges Symptom auftreten.
Weniger häufig sind Sprachstörungen, üblicherweise aphasische Störungen, die jedoch meist schwer einzuordnen sind.
Systematische Studien konnten zeigen, dass viele Patienten mit einer visuellen Aura gelegentlich auch Aurasymptome im Bereich der Extremitäten und/oder sprachbezogene Symptome haben. Umgekehrt scheinen bei Patienten mit Symptomen in den Extremitäten und/oder Symptomen im Hinblick auf Sprechen oder Sprache fast immer wenigstens bei einigen Attacken visuelle Aurasymptome aufzutreten. Eine Abgrenzung einer Migräne mit visueller Aura, Migräne mit hemiparästhetischer Aura und Migräne mit einer Aura bezogen auf Sprechen und/oder Sprache wäre deshalb wahrscheinlich artifiziell und unterbleibt daher in dieser Klassifikation: sie werden alle als eine 1.2.1 Migräne mit typischer Aura kodiert.
Multiple Aurasymptome folgen gewöhnlich aufeinander, beginnend mit visuellen Symptomen, gefolgt von Sensibilitätsstörungen und gegebenenfalls der Aphasie. Eine umgekehrte Reihenfolge oder eine andere Reihung ist jedoch auch beschrieben. Die anerkannte Dauer beträgt für die meisten Aurasymptome eine Stunde, motorische Symptome halten jedoch häufig länger an.
Patienten mit im Hirnstamm entstehenden Aurasymptomen werden unter 1.2.2 Migräne mit Hirnstammaura kodiert, weisen jedoch fast immer zusätzliche typische Aurasymptome auf. Beinhaltet die Aura eine motorische Schwäche, sollte die Erkrankung als 1.2.3 hemiplegische Migräne oder eine ihrer Subtypen kodiert werden. Die 1.2.3 hemiplegische Migräne wird aufgrund genetischer und pathophysiologischer Unterschiede im Vergleich zu einer 1.2.1 Migräne mit typischer Aura als separater Subtyp klassifiziert. Patienten mit einer 1.2.3 hemiplegischen Migräne weisen oft zusätzlich Hirnstammsymptome auf.
Wenn Patienten Schwierigkeiten bei der Beschreibung ihrer Symptome haben, sollten sie angeleitet werden, den Zeitablauf und die Symptome aufzuzeichnen. Übliche Fehler sind ungenaue Angabe über die Lateralisation der Kopfschmerzen, Angaben eines plötzlichen anstatt eines tatsächlichen graduellen Beginns der Aurasymptome, Angabe von monokulären anstatt tatsächlichen homonymen visuellen Störungen, ungenaue Angaben über die Dauer der Aura sowie irrtümliche Annahme einer motorischen Schwäche bei einem tatsächlichem sensiblen Defizit. Nach dem Erstgespräch kann der Gebrauch eines Aurakalenders die Diagnose erhellen.
Mitunter geht die Migräneaura mit einem Kopfschmerz einher, der nicht die Kriterien für eine 1.1 Migräne ohne Aura erfüllt, dieser gilt aufgrund seiner Beziehung zur Aura aber dennoch als Migränekopfschmerz.In anderen Fällen kann eine Migräneaura auch ohne Kopfschmerz auftreten.
Vor oder zeitgleich mit dem Beginn der Aurasymptome ist die regionale Hirndurchblutung in der klinisch betroffenen Region vermindert, schließt aber oft auch größere Areale ein. Die Durchblutungsminderung beginnt üblicherweise im hinteren Kortex und dehnt sich dann nach vorne aus. Sie liegt dabei gewöhnlich über der ischämischen Schwelle. Nach einer oder mehreren Stunden entwickelt sich allmählich in der gleichen Region eine Hyperämie. Leãos Cortical Spreading Depression (CSD) wurde mit diesem Geschehen in Verbindung gebracht.
Die früheren Begriffe einer Migräne mit prolongierter Aura und einer Migräne mit akutem Aurabeginn wurden aufgegeben. Nicht selten hält eine Aura mehr als eine Stunde an, doch in der Mehrzahl der Fälle haben Patienten mit dieser Art von Attacken auch solche, die mindestens zwei weitere Merkmale von Kriterium C erfüllen. Selbst wenn ein Großteil der Attacken, die ein Patient erlebt, Kriterium C nicht erfüllt, verhält es sich in der Regel so, dass andere Attacken Kriterien für eine der anerkannten Subtypen einer 1.2 Migräne mit Aura erfüllen, so dass dies die zu stellende Diagnose wäre. Der Rest sollte unter 1.5.2 mögliche Migräne mit Aura kodiert und dabei die atypischen Besonderheiten (prolongierte Aura oder Migräne mit akutem Aurabeginn) in Klammern beigefügt werden. Die Diagnose erschließt sich gewöhnlich erst nach sorgfältiger Anamnese, obwohl es in seltenen Fällen sekundäre Imitationen der Symptome durch andere Erkrankungen wie eine Dissektion der A. carotis, eine arterio-venöse Malformation oder einen epileptischen Anfall gibt.
Vorbotensymptome der Migräne treten einige Stunden bis zwei Tage vor den sonstigen Symptomen einer Migräneattacke mit Aura auf. Diese beinhalten in unterschiedlicher Kombination Beschwerden wie Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Nackensteifigkeit, Licht- oder Lärmüberempfindlichkeit, Übelkeit, Verschwommensehen, Gähnen oder Blässe. Der Begriff „Prodrom“, der an die Stelle von „Vorwarnphase“ oder „Vorwarnsymptome“ getreten ist, schließt keine Aura mit ein. Der
Kopfschmerzresolution können in der Nachphase postdromale Symptome folgen, am häufigsten Müdigkeit und ein Stimmungshoch oder Stimmungstief. Diese können bis zu 48 Stunden bestehen bleiben und wurden bislang weniger gut untersucht.