1.1 Migräne ohne AuraHartmut Gobel2019-04-22T04:45:18+00:00
Früher verwendete Begriffe
Einfache Migräne; Hemikranie.
Beschreibung:
Wiederkehrende Kopfschmerzerkrankung, die sich in Attacken von 4 bis 72 Stunden Dauer manifestiert. Typische Kopfschmerzcharakteristika sind einseitige Lokalisation, pulsierender Charakter, mäßige bis starke Intensität, Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten und das begleitende Auftreten von Übelkeit und/oder Licht- und Lärmüberempfindlichkeit.
Diagnostische Kriterien:
- Mindestens fünf Attacken1, welche die Kriterien B bis D erfüllen
- Kopfschmerzattacken, die (unbehandelt oder erfolglos behandelt) 4 bis 72 Stunden 2;3 anhalten
- Der Kopfschmerz weist mindestens zwei der folgenden vier Charakteristika auf:
- einseitige Lokalisation
- pulsierender Charakter
- mittlere oder starke Schmerzintensität
- Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten (z.B. Gehen oder Treppensteigen) oder führt zu deren Vermeidung
- Während des Kopfschmerzes besteht mindestens eines:
- Übelkeit und/oder Erbrechen
- Photophobie und Phonophobie
- Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose.
Anmerkung:
- Die Differenzierung einer einmaligen oder von vereinzelten Migräneattacken von symptomatischen migräneartigen Attacken kann schwierig sein. Darüber hinaus kann die Natur einer einmaligen oder die von vereinzelten Attacken schwer zu erfassen sein. Daher werden mindestens fünf Attacken gefordert. Patienten, die ansonsten die Kriterien für 1.1 Migräne ohne Aura erfüllen, aber bisher weniger als fünf Attacken erlitten haben, sollten unter 1.5.1 Wahrscheinliche Migräne ohne Aura kodiert werden.
- Schläft ein Patient während einer Migräne ein und erwacht kopfschmerzfrei, gilt als Attackendauer die Zeit bis zum Erwachen.
- Bei Kindern und Jugendlichen (im Alter von unter 18 Jahren) können Migräneattacken 2 bis 72 Stunden dauern (eine unbehandelte Dauer von unter 2 Stunden bei Kindern bedarf noch weiterer wissenschaftlicher Untermauerung).
Kommentar:
Bei Kindern und Jugendlichen (unter 18 Jahren) sind Migränekopfschmerzen häufiger beidseitig als bei Erwachsenen; das Erscheinungsbild eines einseitigen Kopfschmerzes entwickelt sich meist in späten Jugend- oder frühen Erwachsenenalter. Migränekopfschmerzen sind in der Regel frontotemporal lokalisiert. Okzipitale Kopfschmerzen sind bei Kindern selten und erfordern besondere diagnostische Vorsicht. Bei einer Untergruppe von ansonsten typischen Patienten ist der Schmerz im Gesicht lokalisiert, in der Literatur „faziale Migräne“ genannt; es findet sich kein Hinweis darauf, dass diese Patienten eine eigene Untergruppe von Migränepatienten bilden.
Die Prodromalsymptome können Stunden oder ein bis zwei Tage vor den sonstigen Symptomen einer Migräneattacke ohne Aura auftreten. Zu ihnen zählen diverse Kombinationen von Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Nackensteifheit, Licht- und/oder Geräuschempfindlichkeit, Übelkeit, verschwommenes Sehen, Gähnen und Blässe. Die Postdromalsymptome, unter denen Müdigkeit und ein Stimmungshoch oder -tief am häufigsten sind, können auf das Verschwinden des Kopfschmerzes folgen und bis zu 48 Stunden anhalten; diese müssen noch gründlicher untersucht werden.
Migräneattacken können mit kranio-autonomen Symptomen und mit Symptomen einer kutanen Allodynie verbunden sein.
Bei kleinen Kindern lässt sich Licht- und Geräuschempfindlichkeit aus ihrem Verhalten ableiten.
Eine Minderheit (<10%) von Frauen erleidet Migräneattacken in Verbindung mit einem Großteil ihrer Menstruationszyklen; die meisten dieser Attacken erfolgen ohne Aura. Attacken während der Menstruation sind tendenziell länger und von heftigerer Übelkeit begleitet als Attacken außerhalb des Menstruationszyklus‘. Die ICHD-3 bietet Kriterien an für eine A1.1.1 rein menstruelle Migräne ohne Aura, eine A1.1.2 menstruationsassoziierte Migräne ohne Aura und eine A1.1.3 nicht-menstruelle Migräne ohne Aura, jedoch ausschließlich im Anhang, da weiter Unklarheit darüber besteht, ob es sich um separate Entitäten handelt. Zudem werden Kriterien für eine A1.2.0.1 rein menstruelle Migräne mit Aura, eine A1.2.0.2 menstruationsassoziierte Migräne mit Aura und eine A1.2.0.3 nicht-menstruationsassoziierte Migräne mit Aura angeboten, um zu einer besseren Charakterisierung dieser weniger gängigen Subtypen anzuregen, sofern es sich um separate Entitäten handelt.
Sehr häufig auftretende Migräneattacken werden nun als 1.3 chronische Migräne hervorgehoben. Besteht in Verbindung mit diesen ein Medikamentenübergebrauch, sollten beide Diagnosen, 1.3 chronische Migräne und 8.2 Kopfschmerz zurückzuführen auf einen Medikamentenübergebrauch, zur Anwendung kommen. 1.1 Migräne ohne Aura ist die Erkrankung, die am anfälligsten dafür ist, bei zu häufigem Gebrauch von symptomatischer Medikation zuzunehmen.
Der regionale zerebrale Blutfluss zeigt während Migräneattacken der Kategorie 1.1 Migräne ohne Aura keine Veränderungen, die auf eine „cortical spreading depression (CSD)“ hinweisen, auch wenn Veränderungen des Blutflusses im Hirnstamm ebenso auftreten können wie kortikale Veränderungen als Folge der Schmerzaktivierung. Dies steht im Gegensatz zur pathognomonischen „spreading oligaemia“ bei 1.2 Migräne mit Aura. Während ein Großteil der Literatur zu dem Schluss gelangt, dass eine CSD bei 1.1 Migräne ohne Aura nicht auftritt, widersprechen dem einige neuere Studien. Darüber hinaus wurde die Theorie aufgestellt, dass bei 1.1 Migräne ohne Aura gliale Kalziumwellen oder andere kortikale Phänomene beteiligt sein könnten. Dagegen sind die Botenmoleküle Stickoxid (NO), Serotonin (5-Hydroxytryptamin; 5-HT) und Calcitonin-Gene-Related Peptide (CGRP) mit Sicherheit involviert. Galt dieses Krankheitsbild in der Vergangenheit noch als rein vaskulär bedingt, rückte die Wichtigkeit der Sensibilisierung von Schmerzbahnen und die Möglichkeit, dass Attacken im Zentralnervensystem generiert werden, in den letzten Jahrzehnten zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Zur gleichen Zeit sind die Verschaltungen des Migräneschmerzes, das trigemino-vaskuläre System und diverse Aspekte der Neurotransmission peripher und im Nucleus caudatus n. trigemini, dem zentralen mesenzephalischen Höhlengrau und Thalamus aufgedeckt. Hochgradig rezeptorspezifische Akutmedikationen, darunter die 5-HT1B/D-Rezeptoragonisten (Triptane), 5-HT1F Rezeptoragonisten und CGRP-Rezeptorantagonisten haben ihre klinische Wirksamkeit bei der Behandlung akuter Migräneattacken bewiesen. Aufgrund ihrer hohen Rezeptorspezifität erlaubt ihr Wirkmechanismus neue Einsichten in die pathophysiologischen Abläufe der Migräne. Es ist heute unstrittig, dass 1.1 Migräne ohne Aura eine neurobiologische Erkrankung ist. Sowohl die klinische als auch die neurologische Grundlagenforschung erweitern unser Wissen über die Migränemechanismen derzeit mit zunehmender Geschwindigkeit.